Max Dauthendey - Mein Lebenslauf 90er Jahre

ungewaschen und ungekämmt, verhungert und ungehobelt, in Fabrikluft schwindsüchtig und elend geworden, aber mit unverheuchelt ehrlichen Lebens- und Liebestrieben versehen, das Erbarmen und die Bewunderung der Dichter gefunden hatten. In Deutschland konnten darum damals gute Bürger Zola auf offener Straße ein Schwein nennen! Auch Gerhart Hauptmann und Holz und Schlaf, die drei ersten deutschen Verkünder des Wirklichkeitslebens in Dramen und Romanen, waren von der sogenannten guten Gesellschaft noch geächtet, als könnten sie mit ihren Büchern die Leprakrankheit in Haus und Theater verbreiten. Außerdem war da noch der Philosoph Nietzsche aufgetaucht. Ich sah zum erstenmal in der «Gesellschaft» – die M. G. Conrad mit mächtigem Sturm und Drang stark und mutig begründet hatte – das Bild Nietzsches, des Dichterphilosophen, im Lesesaal der Würzburger «Harmonie» im Jahre 1891, und zugleich war da ein begeisterter Aufsatz mit einer kurzen Angabe aller seiner Werke und mit der Nachricht, daß der große Mann geistig umnachtet bei seiner Mutter in Naumburg lebe und wahrscheinlich nie mehr die Klarheit seiner Gedanken zurückerhalten werde. Ich eilte vom Lesesaal sogleich zur Stubertschen Buchhandlung und verlangte dort Nietzsches Werk «Also sprach Zarathustra». Niemand in der Universitätsbuchhandlung kannte den Namen des deutschen Philosophen. Man bestritt sogar, daß ein Philosoph dieses Namens in Deutschland lebe oder gelebt habe. Man behauptete, ich müßte mich im Namen geirrt haben. Man lächelte und schrieb den Namen, den der Universitätsbuchhändler und die ihn umgebenden Herren noch nie gehört hatten, nur ungern auf.

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