Max Dauthendey - Mein Lebenslauf 90er Jahre

Man wird sich das heute kaum vorstellen können, heute, wo jeder einigermaßen gebildete Student Nietzsches Namen so gut kennt, wie ein Musiker Richard Wagner kennt. «Den Philosophen Nietzsche, den Sie verlangen, kennen wir nicht. Nehmen Sie doch die Werke eines anderen», so riet man mir in jener Buchhandlung. «Einen Philosophen Nietzsche gibt es gar nicht, und wir werden uns nur lächerlich machen, wenn wir nach Leipzig schreiben. Bestellen Sie doch ein Werk von Kant oder Spinoza. Bei diesen Namen sind wir sicher, daß wir Ihnen die Werke verschaffen können.» Ich dankte für den billigen Rat und wollte gehen. Da ersuchte man mich gnädigst, den Namen noch einmal aufzuschreiben. Drei Tage später bekam ich aus Leipzig das Buch. Nietzsche war bereits geistig gestorben, aber sein Werk stand vollendet da. Ist es dann nicht erstaunlich, daß damals bloß die geistigen oberen Zehn, die sich um M. G. Conrads «Gesellschaft» sammelten, den Namen Nietzsche kannten und im Besitz seiner Werke waren? Während fünfzig Millionen Deutsche, die ahnungslos das Kommen und Gehen eines deutschen Geisteszyklopen miterlebt hatten, so wenig von ihrem großen Zeitgenossen wußten und so wenig an seiner Arbeit beteiligt waren, wie wenn ein fernes Sonnensystem im Weltall untergegangen wäre, von dessen Glanz und dessen Erlöschen nur einige Sternwarten der Erde Kunde hatten. Und ich frage mich: woran liegt dieses auffallende Unbeteiligtsein der gebildeten Massen an der Entwicklung großer Männer und ihrer Geistesarbeit? Erst wenn ein Lebenswerk vollendet ist, erst wenn manche Geister irrsinnig werden vor Überanstrengung und vor Qual über

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